Ein ADHS-Gehirn ist nicht „kaputt“ – es ist anders vernetzt
- floriansonneck
- 9. Nov.
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Lange galt Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als reine Funktionsstörung des Gehirns – geprägt durch Impulsivität, Ablenkbarkeit und mangelnde Selbstkontrolle. Doch aktuelle neurowissenschaftliche Forschung, etwa des European College of Neuropsychopharmacology (ECNP, 2025), zeichnet ein differenzierteres Bild: Das ADHS-Gehirn ist nicht defekt, sondern auf eine besondere Weise vernetzt, die sowohl Herausforderungen als auch Potenziale birgt.
In einer Studie des ECNP wurde gezeigt, dass Menschen mit ADHS häufig eine außergewöhnliche Form von Neugier entwickeln – sogenannte Hyperneugier. Diese treibt sie dazu an, aktiv nach neuen Eindrücken und Ideen zu suchen. Neurowissenschaftlich betrachtet reagieren bei ihnen die dopaminergen Belohnungssysteme besonders stark auf Neues und Unerwartetes. Das erklärt, warum Betroffene zwar schnell zwischen Themen wechseln, sich aber ebenso intensiv in ein Interessengebiet „hineinversenken“ können, wenn es sie emotional oder kognitiv anspricht.
Dieses Muster spontanen und bewussten „Gedankenwandelns“ aktiviert laut der ECNP-Studie dieselben neuronalen Belohnungszentren wie Hunger oder Verlangen. Evolutionsbiologisch betrachtet könnte diese neugiergetriebene Risikobereitschaft ein Vorteil gewesen sein – etwa beim Erkunden unbekannter Umgebungen oder beim Lösen komplexer Probleme. In modernen, stark strukturierten Lern- und Arbeitskontexten hingegen wird diese Dynamik oft als Defizit fehlinterpretiert.
Forschende warnen daher, dass übermäßige Strukturierung oder medikamentöse Dämpfung die kreative Energie und intrinsische Motivation von Menschen mit ADHS beeinträchtigen könnten. Statt ADHS ausschließlich als Störung zu klassifizieren, plädieren sie für ein Verständnis im Rahmen der Neurodiversität: als alternative, potenziell produktive Art des Denkens und Fühlens. Dieses Perspektivwechsel könnte neue Wege eröffnen, um Lernen, Arbeit und Gesellschaft inklusiver und kreativer zu gestalten.
Quelle: European College of Neuropsychopharmacology (2025). New research reveals how ADHD sparks extraordinary creativity. ECNP Annual Congress Proceedings, 13. Oktober 2025.

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