Sankt Martin und das Steckenpferd der Zeit
- floriansonneck
- 11. Nov.
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Sankt Martin hat’s nicht leicht. Früher ritt er stolz auf seinem Ross durch Schnee und Wind, teilte Mäntel und Herzen. Heute? Heute kommt er auf einem Steckenpferd daher – aus zertifiziertem FSC-Holz natürlich, klimaneutral produziert und mit recycelter Mähne. Das echte Pferd steht im Ruhestand, weil die Tierschutzverordnung nun auch für Heilige gilt.
Die Kinder schauen irritiert: „Mama, warum reitet der Mann auf einem Besenstiel?“ – „Psst, das ist der Zeitgeist, mein Schatz!“ Der Zeitgeist trägt Warnweste, reflektierende Laterne und einen QR-Code für die Mantelspende-App. Statt Fackeln leuchten Powerbanks, und der Bettler scannt den Code mit seinem Smartphone. Mantel teilen war gestern – heute heißt es „Share your warmth“, natürlich kontaktlos.
Im Anschluss gibt’s keine Martinsgans mehr, sondern „vegane Gans-Alternative auf Erbsenbasis“. Der Chor singt via Livestream, und der Posaunenengel hat sich in der Cloud eingeloggt. Der Umzug zieht nicht mehr durchs Dorf, sondern durch den Feed: #SanktMartinChallenge, präsentiert von der Energieagentur Süd.
Doch irgendwo, hinter all dem LED-Geblinke, bleibt der Gedanke lebendig. Dass Teilen wärmt, auch ohne Mantel, Pferd oder Hashtag. Vielleicht liegt die wahre Lehre des neuen Martin gar nicht im Ross, sondern im Steckenpferd – diesem wunderlich treuen Symbol kindlicher Fantasie. Denn wer auf einem Holzpferd reitet und trotzdem Herzen bewegt, hat verstanden, worum es geht: nicht um das Tempo, sondern um das Ziel.
Und so reitet Sankt Martin weiter, leise klappernd, mit einem Lächeln und einem wackelnden Pferdekopf – ins 21. Jahrhundert, wo Heiligkeit längst Bluetooth hat.

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